Unterschiedliche Lichtgeschwindigkeiten

Es ist so ungefähr 25 Jahre her, da wurden in unserer Agentur Kundenmeetings offiziell unterbrochen damit wir – in vollem Ernst – unsere Tamagotchis füttern konnten. Was auch immer wir uns dabei dachten, eines war klar: Wir waren in einer neuen Zeit angekommen. In einer Zeit der tiefgreifenden Veränderung, die unsere Arbeitswelt, unser Zusammenleben und die Form unserer Kommunikation verändern sollte. 

Ähnlich wie heute, 25 Jahre später. Damals mit deutlich weniger Angst vor der Veränderung – dafür heute mit mehr Lust.

Wir haben etwas in dieser Zeit gelernt: Die Zukunft kommt schnell. Wenn Du heute etwas ahnst, ist es morgen schon Wirklichkeit. Seit dieser Zeit wurden prognostisch die Fühler geschult genau aufzupassen, genau hinzusehen, wenn sich Neuigkeiten ankündigen: SMS, das Aufkommen von Flash-Webseiten, das erste iPhone, das iPad 1, das Verschwinden von Flash-Webseiten, WhatsApp, Parallax One Pager, usw. usw. Die Zukunft der letzten drei Jahrzehnte hat uns dazu erzogen, aufzupassen, den Blick auf den Horizont zu richten und auf das, was da als nächstes kommt. Da kommt immer wieder unsere Zukunft mit der wir kollaborieren müssen – oder wir sind raus. 

Hier wäre nun Platz für endlose Ausführungen, was das mit uns gemacht hat und, was daran vielleicht nicht so gut ist. Darüber können andere  sicher besser etwas sagen. Ich bin Fan von Zukunft und war es schon immer. Es fällt nur etwas auf. Bei diesen Entwicklungen reagieren wir offensichtlich nur noch auf solche, die sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen. In Erwartung des nächsten großen Hypes ist alles, was nicht am nächsten Tag Realität ist, ein Rohrkrepierer. StartUps müssen sich innerhalb kürzester Zeit durchsetzen – sonst wird das nichts. Und es stimmt ja auch: Es gibt viele Entwicklungen, die sich als Sackgasse herausstellen.

Zwischen den Lichtgeschwindigkeits-Hypes und den Rohrkrepierern gibt es eine dünne Schicht unterbewerteter Ideen und Entwicklungen. Diese fristen ein undankbares Dasein. Nie ganz tot, aber auch nicht gleich der große Durchbruch. Sie bewegen sich eben mit „langsamer Lichtgeschwindigkeit“ – genauso bedeutend wie die Hypes, nur nicht so unmittelbar. Ein Beispiel: Videotelefonie. Schon seit den 90er Jahren gibt’s die Idee und dazu auch eigens von der Telekom hergestellte Geräte. Videotelefonie hat sich aber nie richtig durchgesetzt – bis vor ein paar Jahren das ganze umbenannt wurde. Heute wird privat und geschäftlich geskypt, was das Zeug hält. Es hat halt nur ein paar Jahrzehnte länger gedauert als gedacht. LAS eben. Dafür gibt es einige Kandidaten: Was ist z.B. mit Second Life? Gibt’s das noch? Kommt das mal? 4D-Kinos? … Was ist mit dem Thema VR? Ist das jetzt der Durchbruch oder nicht?

Ich möchte für diese Ideen mit langsamer Lichtgeschwindigkeit eine Lanze brechen. Sie haben einen entscheidenden Vorteil. Sie lassen Raum für Entwicklung. Wenn man nicht  gleich alles beerdigt, mit dem sich nicht sofort die nächste Milliarde verdienen lässt, können wir etwas versuchen: Den Dingen Zeit geben, um etwas Eigenständiges zu werden. Vielleicht sogar in kulturellen Fragen einen Beitrag leisten. Licht ist unheimlich schnell. Aber wenn etwas langsamer als Licht ist, (das wissen wir von Einstein) dann dreht die Erde sich auch nicht so schnell. Das könnt ihr googeln. Und vielleicht kann dann etwas entstehen, womit wir gar nicht gerechnet haben: etwas Neues. Nicht unbedingt gleich eine neue Geldquelle oder ein neues kommerzielles Modell, sondern etwas Neues, was wir viel dringender brauchen werden: Kulturell mal was Neues. 

Jo Wickert ist Professor an der HTWG Konstanz in den Studiengängen Kommunikationsdesign, hat die Designagentur wmd in Meersburg und Berlin in der Designlösungen für Branding-Projekte, Digitales Marketing im Zentrum stehen. Darüber hinaus ist Jo Wickert Mitgründer von user generated design, einem StartUp mit Büros in Konstanz, Meersburg und Berlin das mithilfe von künstlicher Intelligenz komplexe gestalterische Probleme löst. Hier entstehen Softwarelösungen für internationale Unternehmen und Konzerne.

In seiner Freizeit beschäftigt sich Jo Wickert mit Bogenschiessen, Wildwasser-Rafting und Bouldern. Leider hat er aber überhaupt keine Freizeit 😉

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